Ich schreibe dies aus Japan, wo ich als deutscher Expat lebe. Vor kurzem erzählte mir eine 20-jährige Frau unter Tränen von einem Vorfall, der ihr auf ihrem Heimweg von der Arbeit in Düsseldorf widerfuhr. Obwohl sie in Deutschland aufgewachsen ist, verraten ihre Züge ihre japanische Herkunft – ihre Eltern stammen aus Japan. Kinder unter zehn Jahren, die sie nie zuvor gesehen hatte, verspotteten ihr asiatisches Aussehen. Die Worte trafen sie tief – aus einem einfachen Grund: Kinder werden älter. Und mit ihnen wächst auch der Alltagsrassismus, den sie heute schon so selbstverständlich aussprechen.
Die mir von ihr beschriebene Szene zeigt, wie tief sich rassistische Denkweisen und Handlungen im Alltag einnisten. Man erkennt sie in verstohlenen Blicken, beiläufigen Bemerkungen oder stillem Einverständnis. Hier in Japan erfahre ich Neugier und Offenheit. Nie hat mich jemand wegen meines weißen Aussehens herabgewürdigt oder beschämt. Der Unterschied zeigt, wie das sogenannte White Privilege mich schützt. Worte, die wie kleine Messerstiche treffen, bringen Betroffenen Selbstzweifel bei – und den Verursachern Gleichgültigkeit. Beiden bleibt die Möglichkeit verwehrt, einander auf Augenhöhe zu begegnen.
In Schulen verstärken sich Vorurteile, wenn ihnen nichts entgegengesetzt wird. Wenn Lehrkräfte verletzende Bemerkungen ignorieren oder als harmlos abtun, lernen Kinder, dass „Anderssein“ stört. Bleiben klare Regeln aus, verschwinden Mikroaggressionen im Nebel des Unerwähnten. Junge Menschen lernen: Autoritäten dulden Ausgrenzung. Verbindliche Meldewege, klare Verfahren zur Bearbeitung und Schulungen könnten diesen Kreislauf früh unterbrechen. Dazu braucht es Sprache, die Rassismus deutlich benennt, und regelmäßige Reflexion statt gelegentlicher Appelle. Dazu braucht es vor allem eine Sprache, die komplett auf Rassismus verzichtet.
Auch in Familien beginnt Prägung. Sätze wie „Sieht die überhaupt deutsch aus?“ lehren, Menschen nach Äußerlichkeiten einzuordnen. Medien bestärken diese Sicht: Wenn Menschen mit anderer Hautfarbe fast nur als Bedrohung oder Nebenfigur auftauchen, verfestigen sich Bilder. Viele Eltern meiden aus Unsicherheit das Thema Rassismus – und vermitteln damit Schweigen. Das signalisiert: Es ist nicht wichtig genug, um darüber zu sprechen. Und doch: es ist wichtig. Sogar sehr.
Studien zeigen, dass wiederholte Ausgrenzung die psychische Gesundheit belastet. Das Selbstwertgefühl sinkt, Ängste wachsen, das Sicherheitsgefühl im Alltag schwindet. Die junge Frau, die mit mir über ihr Erlebtes sprach, könnte beginnen, Teile ihrer Identität zu verstecken. Einige verinnerlichen Scham, andere reagieren mit Wut, die neue Wunden reißt. Frühe Unterstützung durch Beratungsangebote oder Peer-Gruppen kann helfen. Vorbilder mit ähnlicher Herkunft stärken Selbstbewusstsein, wo Unsicherheit wächst.
Politische Richtlinien setzen zwar Maßstäbe, bleiben aber oft folgenlos. Meldungen über rassistische Vorfälle liegen mitunter monatelang unbearbeitet. Schnelle Verfahren, klare Definitionen von Mikroaggressionen im Bildungs- und Mietrecht sowie solide Datenerhebungen würden zeigen, dass Ausgrenzung Konsequenzen hat. Kommunen können Projekte fördern, in denen junge Menschen gemeinsam über Herkunftsgrenzen hinweg arbeiten – nicht als Symbol, sondern als Alltag.
Gesetze allein verhindern nicht, dass Kinder auf dem Spielplatz jemanden ausschließen, weil er anders aussieht. In solchen Momenten braucht es Mut. Erwachsene müssen eingreifen. Zuschauer dürfen nicht wegsehen. Oft reichen kleine Gesten: jemanden vorstellen, einladen, nicht mitlachen. Diese Höflichkeit wirkt – bis heute. Und es braucht vor allen Dingen auch eines: Empathie!
Rechte Rhetorik – von der AfD in Deutschland oder Trump und Konsorten in den USA – verschärft die alltäglichen Wunden. Wenn Politiker von „Kulturerhalt“ oder „Werteschutz“ oder „Remigration“ (auch nichts weiter als ein Euphemismus für faschistoide Deportation) sprechen, geben sie stilles Einverständnis für Ausgrenzung. Wenn rassistische Sprache ihr Tabu verliert, breitet sie sich aus – lautlos, aber wirkungsvoll. Jugendliche hören sie von Bildschirmen, sehen, dass niemand widerspricht – und übernehmen sie. Die steigende Anzahl rassistischer Vorfälle zeigt, dass es allerhöchste Zeit wird, zu handeln und sich gegen Rassismus und Faschismus zu stemmen.
Deutschlands Geschichte verleiht dem Thema eine besondere Schwere. Der Holocaust mahnt, wohin Hass führen kann. Aber Erinnerung genügt nicht, wenn sie nicht mit der Gegenwart verbunden wird. Museen und Gedenkstätten allein schaffen keine Brücke zwischen früherem Völkermord und heutigen Sticheleien. Lehrpläne müssen zeigen, wie die Mechanismen von damals sich in den Spottliedern und Abfälligkeiten von heute spiegeln.
Und noch einmal: Empathie ist wichtig, ist der Schlüssel! Empathie wirkt heilend. Sie beginnt im Kleinen – zuzuhören, zu fragen, ernst zu nehmen. Sie wächst, wenn Familien, Schulen und Medien Ausgrenzung benennen und aktiv dagegen arbeiten. Und sie festigt sich, wenn politische Maßnahmen unmissverständlich klarstellen: Rassismus ist keine Meinung.
Diese Arbeit braucht Ausdauer. Es wird Rückschläge geben – das Gelächter über einen „harmlosen“ Witz, das Schweigen in entscheidenden Momenten. Aber jede Korrektur macht die nächste leichter. Jedes Gespräch schafft neue Gewohnheiten. Jede Entschuldigung öffnet ein Fenster für Vertrauen.
Viele meinen, Deutschlands Geschichte mache es immun gegen einen Rückfall in offenen Rassismus. Ja, diese Leute gibt es auch heute immer noch. Doch Erinnerung ohne Handlung bleibt zahnlos. Holocaust-Bildung allein stoppt keine Diskriminierung durch Polizei oder Justiz. Mahnmale verhindern keine Mikroaggressionen auf dem Pausenhof.
Rassismus nährt sich aus Bequemlichkeit. Er bietet einfache Antworten: „Sie sind anders – haltet sie fern.“ Er spricht jene an, die Angst haben, etwas zu verlieren. Er tröstet mit Sicherheit – selbst wenn sie auf Lügen beruht.
Bequemlichkeit zu durchbrechen bedeutet: nicht wegzusehen, wenn eine junge Frau weinend nach Hause geht. Nicht so zu tun, als sei ein „Witz“ belanglos. Sondern zu zeigen, dass es auch anders geht: mit Respekt, mit echter Aufmerksamkeit, mit Rücksicht, mit echter Empathie.
Sie hat nichts falsch gemacht.
Wir schon.